Er rannte. Keuchend stieß er seinen Atem aus. Er glaubte sein ganzes Leben lang gerannt zu sein. Immer weiter sollte er laufen. Immer weiter. Das hatten seine Eltern gesagt. Er solle sich nicht umschauen und nicht zurückkehren. Sonst würden sie auch ihn schnappen.
Er hörte sie hinter ihm durch das Gebüsch brechen. Sie hatten Pferde, aber das machte sie nur langsamer. Keuchend sprang er über einen niedrigen Baumstamm, der seinen Weg kreuzte. Der letzte Sturm musste ihn gefällt haben. Immer weiter. Er brach durch Farne, riss seine Haut an Dornen auf.
Der Wald war immer schon sein Zuhause gewesen, aber heute kam er ihm fremd vor. Ein kalter, grausamer Ort ohne Leben. Alle Geräusche waren verstummt. Er konnte die Vögel nicht mehr hören, die sonst ihre fröhlichen Lieder im ganzen Wald erklingen ließen.
Sie kamen näher. Er konnte den Atem ihrer Pferde hören. Er meinte den dampfenden Atem der Streitrösser in seinem Nacken zu spüren. Sie würden ihn erwischen. Dann wäre alles umsonst gewesen. Seine Eltern. Seine Schwester.
Immer weiter, hatten sie gesagt. Bleib nicht stehen, hatten sie gesagt. Schau dich nicht um, hatten sie gesagt.
Er rannte. Immer weiter, ohne stehen zu bleiben, ohne sich umzusehen und doch kamen sie näher. Zweige zerbrachen, als schwere Hufe auf sie trafen.
Er musste sich irgendwo verstecken. Seine Beine zitterten von der Anstrengung und seine Lunge brannte, wie noch nie zuvor in seinem Leben.
Plötzlich öffnete sich der Wald zu einer Lichtung. Grelles Sonnenlicht schien auf die Wiese, dich sich im Inneren des Waldes verbarg. Fliegen summten und ließen sich auf dem Kadaver eines Bären nieder. Wölfe hatten den Bauch des braunen Riesen aufgerissen, um an die Innereien zu kommen. Inzwischen tummelten sich weiße Maden im fahlen Fleisch des Bären. Raben hatten sich bereits an den Augen des Bären gütlich getan. Selbst am anderen Ende der Lichtung konnte er den Gestank reichen, der von dem toten Tier ausging.
Immer weiter. Er konnte aber nicht mehr weiter. Er sah nur eine Möglichkeit und er musste schnell sein. Er hörte die Stimmen der Männer, die ihre Pferde mit lauten Rufen zu einem halsbrecherischen Tempo anfeuerten. Sie würden gleich hier sein und alles wäre umsonst. Seine Eltern. Seine Schwester.
Er sah nicht zurück. So schnell ihn seine Beine noch trugen, überquerte er die Lichtung. Er folgte einem Weg durch das hüfthohe Gras, den die Wölfe genommen hatten. So würden die Reiter seine Spur nicht sehen.
Der Gestank wurde immer stärker. Die leeren Augenhöhlen des Bären starrten ihn vorwurfsvoll an. Immer weiter. Er kniete sich nieder und öffnete den Bauch des Bären. Der Verwesungsgeruch war so intensiv, dass er meinte sich übergeben zu müssen, doch dafür hatte er nicht die Zeit. Die Reiter hatten die Lichtung fast erreicht. Immer weiter.
Ihm blieb keine andere Wahl. Er krabbelte in den Kadaver und legte sich zwischen die Maden. So schnell er konnte, schloss er die Bauchdecke und hörte auf sich zu bewegen. Atmen wollte er ohnehin nicht.
Die Reiter hatten die Lichtung erreicht. Dumpf konnte er die Hufe der Pferde hören, die nervös schnaubten, als sie dem Kadaver rochen. Die Männer zügelten ihre Pferde. Anscheinend berieten sie sich darüber, wohin er gerannt war. Er hoffte, dass sie es nie erfahren würden, hoffte, dass sie weiter reiten würden. Immer weiter.
Seine Hoffnungen erfüllten sich. Nach kurzer Zeit bewegten sich die Pferde wieder und donnerten am toten Bären vorbei. Er wagte nicht herauszukommen. Lange Zeit nicht.
Er musste sich verbergen. Immer weiter.